Was ist Wahrheit?

Bei der Frage des Pilatus denke ich mir einen skeptischen Unterton: „Was ist schon Wahrheit?“ Und was er vom Anspruch Jesu hält, ist für ihn auch gar nicht entscheidend. Historisch wird er in Jesus eine Gefahr für die pax romana gesehen haben und ihn daher aus politischen Motiven hinrichten lassen. Was ist Wahrheit? Was wahr ist und gilt, bestimmt Pilatus, denn er hat die Macht. Wer hat das Sagen bestimmt auch, was wahr ist – so der Anspruch von Autoritäten aller Art quer durch die Zeit.

Martin Luther soll gesagt haben, dass er nur dann seine Thesen widerrufen werde, wenn er nicht durch Belege aus der Schrift oder durch vernunftgemäße Argumente widerlegt werde. Ein anderes Verständnis von Wahrheit: um sie muss gestritten werden und es steht einem jeden frei, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Die Reformation löste eine Bildungsbewegung aus, weil es ihr darum ging, dass ein jeder selbst über seinen Glauben Auskunft geben kann, selbst über die Schrift und ihre Auslegung mitsprechen soll. Was ist Wahrheit? Das Evangelium, die gute Botschaft, die durch die Worte der Schrift, gemeinsam im Diskurs gefunden werden kann.

Seit einiger Zeit nehme ich so etwas wie eine dritte Art und Weise wahr, Wahrheit zu definieren. Wahrheit ist meine gefühlte Wahrheit. Gerade in den sozialen Netzwerken scheint das sehr verbreitet. Aber diese gefühlte Wahrheit greift mehr und mehr auch im politischen Leben Raum. Eines hat eine solche Wahrheit für sich: einem Faktencheck muss sie sich nicht mehr aussetzen.

Gefühlte Wahrheit kann aber auch eine Engführung sein. Luther hat damals gelitten an den „gefühlten“ Wahrheiten von Höllenangst und der Weltuntergangsstimmung seiner Zeit. Für ihn war es eine Befreiung nicht mehr seinen schwankenden Gefühlen zwischen Verzweiflung und Allmachtswahn zu vertrauen, sondern dass er nach der Wahrheit suchte, indem er sich eines Bezugsrahmens außerhalb seiner selbst bediente: den Zusagen der Heiligen Schrift und im „Faktencheck“ durch die aufklärende und erhellende Vernunft. Lass Dir die befreiende Botschaft des Evangeliums immer neu zusprechen.

Rainer Wilmer