Segensmomente

Ich sitze auf dem Sofa und blase Trübsal. Das kommt vor. Es ist wohl einer dieser Tage, an denen nichts so richtig leichtfallen will und alles irgendwie blöd ist. Doch, bevor ich ganz in Selbstmitleid versinke, greife ich zum Telefon: Zum Glück habe ich diese eine gute Freundin, die selbst an stressigen Arbeitstagen noch 10 Minuten Zeit für mich findet. Wir wechseln ein paar Sätze, ich klage ihr mein Leid und sie hört einfach nur zu. Von ihr fühle ich mich verstanden und gesehen. Ich spüre ein bisschen neue Kraft und auf einmal nehme ich sogar wieder die Wärme der Sonne wahr. Ein Segensmoment.

Was am Gottesdienst ist Ihnen persönlich am wichtigsten? Ich vermute ja, dass die allermeisten Christinnen und Christen einen Lieblingsmoment im Gottesdienst haben. Bei mir persönlich ist und war es schon immer der Segen – ganz am Ende des Gottesdienstes. „Der HERR segne dich und behüte dich.“  Schon als Kind fand ich den Segen faszinierend und geheimnisvoll. Vielleicht gerade weil ich die alten Worte des Aaronitischen Segens nicht völlig verstand: „Der HERR lasse leuchten sein Angesicht über dir und sei dir gnädig.“ Sein Angesicht leuchten lassen – Was soll das bedeuten? „Der HERR erhebe sein Angesicht auf dich und schenke dir Frieden.“ Sein Angesicht auf mich erheben – Was heißt das?

Doch obwohl ich nicht alles verstand, spürte ich, was es bedeutet: Gott schaut mich an – und ich bin ihm wichtig. Ich fühle mich wirklich gesehen. Gottes Blick ist hell und leuchtend wie die Sonne und durchwärmt mich bis in die Zehenspitzen. Und dabei ist es ganz egal, wer den Gottesdienst gestaltet hat. Ob ich die Predigt verstanden und die Lieder schön fand, spielt keine Rolle. Nicht die Pfarrerin oder der Pfarrer, sondern Gott segnet mich in diesem Moment.

Und gleichzeitig brauche ich einen anderen Menschen, der mir den Segen Gottes zuspricht. Ich kann Gott um seinen Segen bitten – mich selbst segnen kann ich aber nicht. Deshalb fehlt er mir bei abgesagten Gottesdiensten ganz besonders: der Segen am Ende.

Zum Glück ist der Segen Gottes aber erfinderisch und scheint auch durch die engsten Ritzen und in die verwinkeltsten Ecken. Er ist nicht einmal auf die alten Worte angewiesen. „Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein.“ Diese Worte spricht Gott in Gen 12,2 zu Abraham und ich stelle mir vor, dass Gott damals eine Segenskette in Gang gesetzt hat: Dass Abraham damals den Segen an seine Frau Sara, seine Kinder und Nachbarn weitergegeben hat. Und dass diese ihn wiederrum an ihre Freunde und vielleicht sogar an die Menschen, die sie nicht besonders mochten, weitergegeben haben.

Und ich glaube, dass diese Segenskette bis heute anhält. Dass auch wir ein Teil von ihr sind und den Segen weitertragen: Immer wenn wir uns für einen anderen Menschen aufrichtig interessieren und wirklich zuhören. Immer wenn wir uns ehrlich mitfreuen können. Immer wenn wir füreinander da sind. So wie meine Freundin für mich da ist – und ich für sie.

Ich wünsche Ihnen in der nächsten Zeit viele Segensmomente – ob im Gottesdienst oder in der Begegnung mit anderen Menschen!

Ihre Vikarin Alexandra Hinsel

ANGEDACHT 2021

März Sieghard Flömer Pessimist und Optimist
Juni Alexandra Hinsel Segensmomente
Juli Rainer Wilmer Aufschieberitis
Dezember Silke Reinmuth Was die Verbindung hält