„Braucht die Nächste ein Gesicht?“

Am 4. August 1944 wurde Anne Frank und ihre Gefährtinnen in der Prinsengracht 263 in ihrem Versteck im Hinterhaus, in dem sie sich für über zwei Jahre versteckt hatten, gefunden und verhaftet. Nur ihr Vater Otto Frank sollte überleben.

Durch die Veröffentlichung ihres Tagebuchs sind das Schicksal und die Gedanken dieses jungen Mädchens weltweit bekannt geworden. Noch heute besuchen jährlich mehr als 1,25 Millionen Menschen das Anne-Frank-Haus. Kaum vorstellbar angesichts der wahrhaft beengten Verhältnisse in diesen wenigen Räumen, in denen sie sich versteckt hielten. Bei unserem Besuch Anfang des Jahres spürten wir die bedrückende Atmosphäre, vermochten im Ansatz die Anspannung zu erfassen, die die auf engem Raum zusammen Untergebrachten beherrscht haben muss.

Wieso aber spricht das Schicksal dieses Mädchens Menschen bis heute an? Wir wissen doch um die unfassbaren Zahlen des Holocausts. Wissen, dass sechs Millionen Menschen in ihm ihr furchtbares Ende fanden. Warum greift man diese eine Person heraus? Ist das nicht willkürlich?

Ich glaube, wir Menschen brauchen ein konkretes Gesicht, damit uns das Leid wirklich anspricht. „Wie bestimmt man die Stunde, in der die Nacht endet und der Tag beginnt?“, fragte einmal ein jüdischer Rabbi seine Schüler. Die Schüler versuchen sich an verschiedenen Antworten. Schließlich gibt er selbst die Antwort: „Es ist dann, wenn du in das Gesicht irgendeines Menschen blickst und deine Schwester oder deinen Bruder erkennst. Doch bis dahin ist die Nacht noch bei uns.“

Wenn wir uns von der Geschichte Anne Franks ansprechen lassen, begegnet uns in ihr nicht mehr ein namenloses Schicksal, sondern unsere Schwester. Indem wir uns von ihrer Geschichte berühren lassen, entdecken wir in ihr die Nächste.

Und – was vielleicht genauso wichtig ist – wir entdecken, dass es mutige Menschen gab, die eben nicht gesagt haben: Wir können doch nichts tun! Menschen, die die Versteckten damals versorgt haben, sich um sie kümmerten.

Wie wir heutzutage Menschen, die unter schrecklichen Zuständen in ihren Herkunftsländern leiden, Menschen, die sich eine bessere Zukunft woanders erträumen, Menschen überall in einer klein gewordenen Welt helfen können, ist sicher eine komplexe Aufgabe. Und wir müssen diskutieren, wie das am besten geschehen kann. Aber wegsehen ist für mich keine Option, denn solange ist die Nacht noch bei uns.

Ihr Rainer Wilmer

ANGEDACHT 2019

FebruarSieghard FlömerEinfach mal versuchen!
MärzSieghard Flömer

Was soll das schon bringen?

JuniSilke ReinmuthWas für ein Vertrauen...
AugustRainer WilmerBraucht die Nächste ein Gesicht?
SeptemberAnnina LigniezStay soft oder weinen erwünscht!
DezemberClaudia GüntherUnter den Wolken: Licht-Zeit